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Andrea Riccardi: "Der Papst als Stimme der wehrlosen Zivilisten. In Gaza wurde eine Grenze überschritten"

Interview in AVVENIRE

Avvenire

Für den Gründer von Sant'Egidio ist der Einsatz von Leo XIV. "der einzige, der die Friedensflagge hochhält. Das gilt sich nicht erst nach dem Angriff auf die Christen"

„Dem Papst gebührt Dank, weil er in dieser sehr schwierigen Zeit die Friedensflagge in Gaza hochhält.“ Mit Andrea Riccardi, dem Gründer der Gemeinschaft Sant'Egidio, betrachten wir die Worte von Leo XIV. beim sonntäglichen Angelus und spulen das Band bis zum vergangenen Donnerstag zurück, dem Tag des Angriffs auf die Pfarrei in Gaza, um zu versuchen, die Sichtweise des Heiligen Stuhls zu verstehen, jetzt, da alle Grenzen überschritten sind und es keine heiligen Stätten mehr gibt. „Die Worte von Leo waren sehr stark“, erklärt Riccardi, „er erinnerte an die Schüsse auf die Kirche der Heiligen Familie und forderte entschlossen ein Ende des Krieges. Gestern schlossen sich 25 westliche Außenminister an, die die Verzögerungen bei der Verteilung der humanitären Hilfe in Gaza verurteilten, das 'unerträgliche Ausmaß' des Leidens der Zivilbevölkerung anprangerten und einen Waffenstillstand forderten“.

Jemand hat spöttisch gesagt, der Papst spreche immer dann, wenn die katholische Kirche getroffen werde.

Man muss die anhaltende Aufmerksamkeit von Franziskus und Leo XIV. für die Krise in Gaza und die wiederholten, eindringlichen Appelle des Heiligen Stuhls für die palästinensische Bevölkerung würdigen. Der Heilige Stuhl hat auch das Drama verurteilt, das das israelische Volk durch den abscheulichen Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober 2023, einen schrecklichen Pogrom, getroffen hat, und die Rückkehr der Entführten gefordert.

Wie sieht die Vision des Papstes und des Heiligen Stuhls nach dem Angriff aus?

Es ist eine Vision des Friedens, aber der Anschlag auf die Kirche der Heiligen Familie nach dem Anschlag auf die orthodoxe Kirche St. Porphyrius zeigt, dass es in Gaza keinen heiligen Ort mehr gibt, weder Gotteshäuser, noch Krankenhäuser, noch Schulen. Überall kann die Zivilbevölkerung, einschließlich Kinder, getroffen werden, sogar wenn sie in der Schlange auf Lebensmittel wartet. Der Papst fordert hingegen die Einhaltung der Verpflichtung zum Schutz der Zivilbevölkerung. Und er fragt sich, warum die täglichen Bombardierungen weitergehen, warum die Bevölkerung von Gaza jeden Tag einen Tribut in Form von Blut zahlen muss. Er erinnert an das Verbot der Kollektivstrafe, man darf die Zivilbevölkerung von Gaza nicht für die Gräueltaten der Hamas verantwortlich machen. Ein palästinensischer Familienvater, der mit seiner Familie in einer Einrichtung von Sant'Egidio untergebracht ist, sagte mir, dass sein Volk im doppelten Sinn als Geisel gefangen sei: durch die Hamas und durch die israelischen Bombardierungen, während es auf der Suche nach Ruhe von einem Ort zum anderen flieht. Die Mahnung von Papst Leo ist also klar: Es gibt ein Verbot der willkürlichen Anwendung von Gewalt. Der Anschlag auf die Pfarrei gibt viel zu denken, nicht weil das Leben von Christen mehr wert ist als das von Muslimen, sondern weil eine Grenze überschritten wurde.

Der Kardinalstaatssekretär hat erklärt, dass es legitim sei, an der Absicht des Anschlags auf die Pfarrei zu zweifeln. Was denken Sie darüber?

Parolin betont zu Recht die Verantwortung derjenigen, die die Kirche angegriffen haben. Im Krieg in Gaza gibt es keinen Zufall, denn es wird überall zugeschlagen und daher kann man nicht von einem Fehler sprechen. Aus dem Mund einer so diplomatischen und aufmerksamen Persönlichkeit wie ihm sind das starke Worte. Natürlich wissen wir, dass die Dinge kompliziert sind, dass die Israelis Hamas-Anhänger in öffentlichen Einrichtungen und Krankenhäusern gefunden haben, aber das war bei der Heiligen Familie sicherlich nicht der Fall. Ich frage mich dann, ob man so viele Menschenleben opfern darf, um diese Anwesenheit zu bekämpfen. Der Krieg hat die Hamas bereits teilweise zerstört. Das ist auch die Meinung eines Teils der israelischen Öffentlichkeit.

Aber was ist das Ziel dieser wahllosen Angriffe der Israelis auf Menschen oder heilige Stätten? Will man, dass die palästinensische Bevölkerung den Gazastreifen verlässt?

Ich finde das respektlos gegenüber einem ganzen Volk und seiner Geschichte und auch unrealistisch, denn ich weiß nicht, wohin diese armen Menschen gehen sollen. Aber ich kann keine anderen Gründe finden. Es muss Schluss sein, zu viel Blut ist vergossen worden.

Haben einige, vielleicht in Washington, erwartet, dass ein amerikanischer Papst eine andere Haltung gegenüber dem Krieg einnehmen würde?

Aber die Päpste der letzten zwei Jahrhunderte haben nie nach nationaler Zugehörigkeit gedacht, sie haben sich, wie Pius XII. sagte, als Väter aller Nationen und Zeugen des Friedens verstanden. Mit dem Wechsel des Pontifikats gab es die seltsame Erwartung einer Zäsur bei verschiedenen Themen, die Papst Leo nicht eigen ist. Er hat zwar einen anderen Stil als Franziskus und seine Vorgänger, aber er übernimmt die Kontinuität des Pontifikats und arbeitet gleichzeitig daran, die Zukunft zu gestalten. Es gibt bereits Anzeichen für Neues, denn die große Aufgabe Leos ist es, die Kirche in die Zukunft zu führen und für den zukünftigen Frieden zu arbeiten. Mir scheint, dass er Gaza und die Krise im Nahen Osten mit großer Aufmerksamkeit verfolgt, mit leidenschaftlichem Interesse für die Christen im Orient.

Sant'Egidio gehört zu den Organisationen, die über den wachsenden Antisemitismus besorgt sind. Aber auch diejenigen, die Israel kritisieren, werden oft des Antisemitismus bezichtigt. Welche Gegenmittel kann man in die politische und kulturelle Debatte gegen Polarisierungen einbringen?

Der sich entwickelnde Antisemitismus ist typisch für diese Zeit der Orientierungslosigkeit, in der man nach einem Feind sucht. Und der Jude erscheint als der urzeitliche Feind. Gestern fragte mich ein junger Mann im Radio, ob man die Juden nach den Ereignissen in Gaza noch als ältere Geschwister bezeichnen könne. Ich antwortete knapp: Die Juden sind unsere älteren Geschwister und – wie Johannes Paul II. bei seinem unvergesslichen Besuch in der Hauptsynagoge, dem "Großen Tempel" in Rom 1986 sagte – das Judentum ist in gewisser Weise untrennbar mit unserem Glauben verbunden. Wir haben eine besondere Beziehung zum Judentum, die sich von allen anderen Religionen unterscheidet. Aber diese tiefe und untrennbare Verbundenheit bedeutet nicht, dass wir die Politik der israelischen Regierung unterstützen müssen. Ich war mit der großen Persönlichkeit des römischen Rabbiners Toaff befreundet: Auch er konnte sich manchmal mit einigen Entscheidungen der israelischen Regierung nicht identifizieren. Das große Problem der israelischen Bürger ist die Sicherheit Israels, die durch die schrecklichen Ereignisse vom Oktober 2023 oft in Frage gestellt wurde, aber das bedeutet nicht, dass man die Politik der Regierung Netanjahu teilen muss. Ich frage mich sogar, ob diese Handlungen letztendlich der Sicherheit Israels dienen.

Wo würden Sie ansetzen, um Frieden zu schaffen?

Das Problem ist, dass wir in einer Welt leben, die den Krieg als Mittel zur Konfliktlösung rehabilitiert hat, und die Worte des Papstes helfen uns, den Frieden nicht zu vergessen, der die wahre Lösung der Probleme ist. Die bekannte Persönlichkeit Yitzhak Rabin, der später ermordet wurde, hatte ihn für Israel und die Palästinenser ins Auge gefasst. Heute befinden wir uns nicht nur in einem Konflikt mit Bombardierungen, die jeder Logik entbehren, sondern auch in einer unglaublich verschärften Spannung im Heiligen Land und im Nahen Osten. Ich hoffe auf Frieden, weil ich glaube, dass er vernünftig ist, dass es keine Alternative zum Zusammenleben in Sicherheit gibt, weil dies in der Geschichte und in der Geografie eingeschrieben steht. Der Weg ist lang und es bedarf einer gemeinsamen Anstrengung der großen internationalen Akteure. Wir befinden uns beispielsweise in Syrien in einer neuen Situation, in der die Integrität des Landes neben dem fragilen Libanon gewahrt werden muss. Ich danke dem Papst, dass er das Banner des Friedens nicht gesenkt hat. Letztes Jahr haben wir unser Friedensgebet im Geiste von Assisi in Paris abgehalten und den Titel „Frieden vorstellen” gewählt. Denn mittlerweile haben wir ihn als echte Lösung des Problems fast vergessen.

Übersetzung der Redaktion