"Ich kannte Jorge Mario Bergoglio schon gut, seit er Bischof von Buenos Aires war. Wir haben uns oft gefragt, wie die Kirche in den großen Städten, insbesondere in den Vororten, wirklich anwesend sein kann."
Der Historiker Andrea Riccardi, Gründer der Gemeinschaft Sant'Egidio, lässt die Erinnerungen Revue passieren und erinnert sich an die wichtigsten Momente seiner Beziehung zu dem Papst, der "vom Ende der Welt" kam. Sein Tod hinterlässt in ihm eine Leere, gemischt mit tiefer Trauer, die schwer zu heilen ist. "Er war für mich ein Freund, ein spiritueller Bezugspunkt, ein Mann, der die Zeichen der Zeit zu deuten wusste und es wagte, sie zu verändern. Für mich, wie für viele andere, war er ein Führer, der nicht befahl, sondern einlud. Ein Hirte, der trotz seines Amtes als Papst Mensch geblieben ist." Das historische Urteil lautet: "Ein außergewöhnlicher Papst, auf ganz besondere Weise. Er hat viel in verschiedene Richtungen gesät und dabei stets die Zusammenarbeit der Kirche gesucht, die jedoch nicht immer darauf eingegangen ist. Und doch spüren heute alle – nicht nur ich – eine große Leere, denn Franziskus war eine Bezugsperson für die ganze Welt, ein Symbol des Friedens und des Guten in einer Zeit der Konflikte und Spaltungen, wie wir sie weiterhin erleben."
Sie haben mehrfach über die Sprache und die Zeichen von Franziskus gesprochen. Was hat diese besondere Kommunikationsfähigkeit für Sie bedeutet?
"Franziskus war kein isolierter Verkünder des Evangeliums. Er war Zeuge eines Glaubens, der mit Menschlichkeit und Originalität vermittelt wurde. Das Manifest seines Pontifikats ist das Apostolische Schreiben Evangelii Gaudium vom November 2013: ein Text, der es verdient, erneut gelesen zu werden, weil er den Wunsch, ja sogar den Plan einer 'Kirche im Aufbruch' enthält, die nicht innerhalb der Mauern des Vatikans oder einer Pfarrei oder Mission eingeschlossen ist, sondern fähig ist, in der Gegenwart zu leben. Leider wurde dieser Entwurf aufgrund von Widerständen und Trägheit nur teilweise verwirklicht. Das muss gesagt werden. Aber sein Geist und sein missionarischer kirchlicher Eindruck bleiben eines der größten Vermächtnisse, das er uns hinterlässt."
Welche Rolle hat Franziskus Ihrer Meinung nach im Dialog mit der säkularen Welt und mit denen gespielt, die sich vom Glauben entfernt fühlen?
"Er hat verstanden, dass die Grenzen zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen heute viel fließender sind. Es gibt eine fließende Welt von 'spirituellen Nichtgläubigen', von Menschen, die auf ihre Weise glauben. Franziskus hat die Vision einer Kirche der Reinen und Hartherzigen überwunden: Er wollte ein Volk mit offenen Grenzen und suchte in jedem Menschen den Funken Liebe und Glauben, der in jedem Menschen steckt. Er war ein Mauern-Einreißer. Die Grenzen zwischen Nichtgläubigen und Katholiken werden immer fließender. Ein Fels in der Brandung des Glaubens in unserer Zeit."
Wie beurteilen Sie das Pontifikat von Franziskus aus historischer Perspektive?
"Franziskus war der Papst, der die Kirche der Armen verwirklicht hat. Früher wurde die Beziehung zu den Armen oft an Wohlfahrtseinrichtungen delegiert. Er hingegen hat sie in den Mittelpunkt gestellt, sie zu einem Kennzeichen seines Pontifikats gemacht, von der Notwendigkeit gesprochen, sie zu berühren, zu umarmen, wie er es so oft getan hat, ihre Lage als menschliche und spirituelle Erfahrung zu leben. Er war kein politischer Papst im engeren Sinne, eher war seine Politik die Geschwisterlichkeit. Man denke nur an "Fratelli tutti", eine echte Enzyklika über den Frieden und die Geschwisterlichkeit. Hätten wir sie gelesen und beherzigt, wäre die Welt heute vielleicht nicht im Krieg."
Welche konkreten Schritte hat Papst Franziskus im interreligiösen Dialog unternommen?
"Sehr wichtige. Als er gewählt wurde, stand die christliche Welt in Spannung zum Islam. Franziskus hat mit dem Dokument von Abu Dhabi über die Brüderlichkeit aller Menschen zwischen Christen und Muslimen eine wichtige Brücke errichtet. Er hat auch neue Wege zur schiitischen Welt eröffnet, wie das Treffen mit Al Sistani und dem Imam von Al-Azhar. In einer schwierigen Zeit hat er es verstanden, positive, tiefe und aufrichtige Beziehungen aufzubauen."
Welche Rolle hat Ihrer Meinung nach die Wissenschaft in seinem Pontifikat gespielt?
"Franziskus hatte großes Vertrauen in die Wissenschaft. Ich erinnere mich besonders an seine persönliche Entscheidung, sich gegen Covid impfen zu lassen, ein starkes Zeugnis. Und dann dieses Bild, das für immer bleiben wird: er allein, im Regen, auf einem völlig leeren Petersplatz, fast surreal, während der Fastenzeit 2020, vor dem Kruzifix. Es war ein Symbol des Glaubens, der Hoffnung, der Nähe zum Leid der Menschheit.»
Was bleibt heute konkret von seiner Vision der Kirche?
"Es bleibt ein tiefes Vermächtnis. Sein Traum von einer 'Kirche im Aufbruch' ist nach wie vor aktuell. Es bleibt das Bewusstsein, dass ein Glaube ohne Menschlichkeit steril ist. Und das Bewusstsein, dass das Evangelium nicht nur mit Worten, sondern mit dem Leben vermittelt wird. Das ist das größte Vermächtnis von Franziskus."
[Francesco Anfossi]
(Übersetzung der Redaktion)